Bücherberg-Rezension: Demokratie fehlt Begegnung (Rainald Manthe, 2024)

Darum geht es in diesem Buch

Rainald Manthe zeigt, wie sehr Demokratie auf alltägliche Begegnungen angewiesen ist. Orte, an denen Menschen sich ungezwungen treffen, übernehmen eine zentrale Funktion für das soziale Miteinander: Sie bringen Menschen in „Wahrnehmungsreichweite“ zueinander, schaffen gemeinsame Räume und machen einander erlebbar. Diese Begegnungen stärken den sozialen Zusammenhalt und sind essenziell für das Funktionieren der Demokratie. Doch viele dieser Orte verschwinden oder sind nur noch für wenige zugänglich. Wenn etwa die Dorfkneipe schliesst, das Schwimmbad aufgegeben wird oder das Engagement in der Freiwilligen Feuerwehr nachlässt, wird spürbar, wie wichtig diese Begegnungen eigentlich sind.

Manthe fordert, dass Begegnungsorten ein gleichwertiger gesellschaftlicher Stellenwert eingeräumt wird wie der Infrastruktur für Wasser, Informationen oder Mobilität. Vertrauen, das nötig ist, um andere als legitime Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen, braucht konkrete, sinnliche Erfahrungen. „Demokratie fehlt Begegnung“ ist ein Plädoyer für die gesellschaftliche und politische Förderung und Gestaltung dieser Orte.

Darum habe ich dieses Buch gelesen

Als mitgestaltende Dorfpionierin im Urbanen Dorf Webergut interessiert mich, wie Begegnungsorte das gesellschaftliche Zusammenleben und den sozialen Zusammenhalt stärken. Das Buch versprach, die „alltägliche Demokratie“ – die wir oft als selbstverständlich betrachten – aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Gerade in einer Zeit zunehmender sozialer und politischer Polarisierung finde ich es spannend zu erfahren, wie solche Orte helfen, Menschen zusammenzubringen und demokratische Werte zu stärken.

Das nehme ich mit

  • Demokratie lebt nicht nur von Institutionen wie Wahlen oder politischen Bildungseinrichtungen, sondern auch von alltäglichen Begegnungen an Orten wie Parks, Cafés oder Sportvereinen.

  • Begegnungsorte fördern Toleranz und Rücksichtnahme und stärken soziale Kompetenzen wie die Konfliktfähigkeit. Gerade an solchen Orten wird Zusammenleben als unmittelbare Erfahrung erlebbar – ein Kontrast zu den oft verzerrten Darstellungen in sozialen Medien.

  • Alltagsorte ermöglichen demokratische Irritationen: An „Dritten Orten“ begegnen Menschen einander ungezwungen, in einer Umgebung, die keine spezifischen Absichten verlangt und wo Statusunterschiede eine geringere Rolle spielen.

  • Die Vielfalt der Begegnung zählt – vom zufälligen Sehen bis zur gemeinsamen Aktivität. Diese Vielfalt bietet Räume für Konfliktbewältigung und das Erleben anderer Lebensweisen.

  • Eine „Politik der Begegnung“ ist möglich und nötig: Manthe gibt zehn Empfehlungen, wie solche Alltagsorte gefördert werden können, etwa durch Modellprojekte, die Stärkung von Nachbarschaften und die Schaffung multifunktionaler Begegnungsräume.

  • Alltagsorte sind keine netten Extras – sie spielen eine zentrale Rolle im sozialen Gefüge und sind essenziell für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen zwischen Menschen.

Ein Buch für dich?

„Demokratie fehlt Begegnung“ richtet sich an alle, die wissen wollen, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt im Alltag entsteht und was Demokratie mit Begegnung zu tun hat. Das Buch bietet vor allem Menschen, die Begegnungsorte gestalten – wie Stadtplanerinnen, Sozialarbeiterinnen und andere Engagierte – wertvolle Impulse und Lösungsansätze für eine zukunftsfähige Gesellschaft.

Meine liebsten Textstellen

Es spricht nichts dagegen, ein wenig Utopie zu wagen, es erst im Kopf zu probieren und vielleicht ein paar Ansätze zu testen. Denn: Wo wir wohnen und wer unsere Nachbarn sind, wem wir also alle paar Tage begegnen, von wem wir die Milch, Mehl und Eier leihen – das bestimmt auch, wie wir Gesellschaft wahrnehmen.
— Rainald Manthe, S. 100
Alltagsorte sind öffentliche Infrastrukturen, auch wenn sie nicht immer dem Staat gehören. Sie sind öffentlich, weil hier die Öffentlichkeit der Demokratie entsteht. Sie als öffentlich Infrastrukturen der Demokratie zu verstehen, macht sie gestaltbar. Es sollte ganz dringend geschehen: Alltagsorte gestalten.
— Rainald Manthe, S. 127
Begegnung wäre vielleicht gar nicht so notwendig, wenn Menschen sich sehr ähnlich währen. Man wüsste dann, was Meier, Müller und Schulze essen, denken und wählen. Aber moderne Demokratien sind vielfältig. [...] Liberale Demokratien richten sich an der Freiheit des Individuums aus.
— Rainald Manthe, S. 12
Demokratie lebt nicht nur von einigen wenigen, oft voraussetzungsreichen Institutionen. Sie lebt auch davon, dass Menschen einander im Alltag begegnen und erleben.
— Rainald Manthe, S. 13
Unterschiedliche Lebensweisen, abweichende Meinungen - all das ist in Interaktion personifiziert, nicht abstrakt.
— Rainald Manthe, S. 17
Die meisten Menschen haben relativ moderate Haltungen zu den meisten Themen – es gibt keine ideologische Polarisierung, sondern einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Vor allem bei der Gleichstellung verschiedener Lebensformen, bei Ungleich und Klimaschutz sind die meisten Menschen ähnlicher Meinung.
— Rainald Manthe, S. 31
Arbeiten sich die Ränder aneinander ab und schweigt der Rest, wirkt es schnell, als sei das Land auf dem Weg zur polarisierten Nation.
— Rainald Manthe, S. 34
Werte wie Toleranz, Rücksichtnahme oder Engagement für das Gemeinwesen sind [...] der Kitt, der Bürger*innen und den Staat zusammenschweisst.
— Rainald Manthe, S. 35
Öffentliche Räume sind die Adern und die Struktur der Stadt. Strassen durchziehen sie und strukturieren ihre Mobilität, Plätze markieren wichtige Orte, Parks sind Erholungsoasen und Bibliotheken markante Quellen des Wissens. Anhand der öffentlichen Orte wird eine Stadt als solche erkennbar.
— Rainald Manthe, S. 68
Das zufällige Wahrnehmen anderer Menschen ist eine Grundlage moderner Demokratien. Nur wenn wir konkret und vielsinnig wahrnehmen, mit wem wir uns ein Gemeinwesen teilen, können wir sie auch als legitime Andere akzeptieren. So besteht die Chance, ein Mindestmass an Vertrauen aufzubauen.
— Rainald Manthe, S. 70

Was denkst du?

Manthe beschreibt Begegnungsorte als Grundlage der Demokratie und zeigt auf, was verloren geht, wenn diese Orte verschwinden. Gerade in Zeiten wachsender Einsamkeit und Polarisierung wird der Mangel an „alltäglicher Demokratie“ besonders spürbar.

Wie lässt sich dieser Mangel beheben? Und wo könnten neue, lebendige Begegnungsorte geschaffen werden?


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